Tannhäusers Flucht in den Traum

Gespräch mit Harry Kupfer zu seiner Neuinszenierung
in der
Staatsoper unter den Linden

Sie haben in den 70er und in den 80er Jahren Wagners »Tannhäuser« in Dresden und dann in Hamburg inszeniert. In beiden Fällen betonten Sie den Widerstreit zwischen Geist und Macht. Steht das auch in Ihrer Berliner Konzeption von 1999 im Mittelpunkt?

Geist und Macht als Widerspruch kann man in jedem Werk finden, das sich mit solcher Problematik auseinandersetzt. Beim »Tannhäuser« interessiert mich stärker noch die Künstlerproblematik in einem gesellschaftlichen Umfeld, das ja grundsätzlich konservativ ist. Die Aufgabe des Künstlers besteht darin, gegen diesen festgefahrenen Dogmatismus, Konservatismus anzugehen und neue Ideen und Moralanschauungen in seinem künstlerischen Werk zu postulieren. Daher wird er immer mit der Gesellschaft, die schwerfällig ist in ihrer Entwicklung, in Konflikt geraten. Im »Tannhäuser« aber ist die Problematik nicht Künstler -Gesellschaft oder Gesellschaft-Künstler, sondern die Problematik dringt ganz tief in den Künstler selbst ein als innerer Widerspruch. All das trägt sich im Tannhäuser selbst aus.

Er gehört weder zur Wartburgwelt noch zum Venusberg?

Er gehört als gesellschaftliches Individuum schon zur Wartburgwelt, aber er schert aus. Nur wird dieses Ausscheren nicht von einem revolutionären Geist getragen, sondern von Anarchie. Er selbst schwankt ja wie ein Rohr im Wind, eigentlich hat er gar keinen richtigen Standpunkt. Zwar hat er oft emotional recht, wenn er ausbricht, aber er bedenkt ja nie die Folgen und kehrt immer wieder zu dem zurück, was er gerade verworfen hat. Somit ist Tannhäuser eine tief gespaltene Figur, eigentlich Richard Wagner selbst. Er stellt sich hier besser dar, als ihm persönlich bewußt war. Tannhäuser ist auch kein Opfer seiner Gesellschaft, sondern ein negativer Vertreter des Künstlerstandes, er schwankt, kann sich nicht entscheiden, verhält sich opportunistisch und geht daran zugrunde.

Ist in Ihrer Interpretation der Venusberg eine Alternative zur Wartburgwelt?

Nein, das ist er nicht. Durch die Herkunft aus der Antike ist die Venusbergwelt eine Fiktion. In Dresden und in Hamburg war der Venusberg im Sinne der Jungdeutschen die Welt des Sich-Auslebens, der sexuellen Selbstbefreiung bis zur Dämonisierung des Sex. Dabei wurde in Hamburg der Venusberg gleichsam zum Puff der Wartburgwelt.
Das scheint mir heute zu klein gedacht. Mein Ansatz ist diesmal anders: In den frühen Werken Wagners spielt ja der Traum eine große Rolle, siehe Senta im »Holländer« oder Elsa im »Lohengrin«. Auch Tannhäuser flüchtet sich mit seiner Phantasie in einen Traum, in etwas, was es nie gegeben hat. Auch die antike Welt hat den Menschen nicht frei gemacht, auch dort gab es den gleichen Widerspruch zwischen Individuum und Gesellschaft. Da man aber die Antike nur aus ihren Kunstprodukten kannte, hielt man sie für eine ideale Welt der künstlerischen, persönlichen, auch der sexuellen Freiheit. Daraus wuchs das Bild einer anarchischen Freiheit, die schließlich den Sprung zur Dämonisierung, zum Alptraum zuläßt. Diesmal flieht Tannhäuser also aus der Wartburgwelt in den Traum und begegnet dort der Fiktion Antike, die sich in romantisierten, verzerrten Bildern darstellen wird und im Laufe des Traumes in einen bedrückenden Alptraum steigert, der ja ebenfalls zu keiner Befriedigung führen kann. Tannhäuser findet das, was er sucht, in dieser Traumwelt nicht und reißt sich aus ihr heraus. Der Ort Venusberg ist deshalb bei uns keine Realität, sondern künstlerische Phantasie, Traum.

Tannhäuser kehrt ja auch zurück in die Natur?

In die Natur, aber auch dorthin, wo er als Künstler wirksam werden kann. Er spürt ja gegenüber Venus seine künstlerische Sterilität, flieht zurück in die Natur und damit zugleich in die reale Welt, in die Gesellschaft.

Sind Elisabeth und Venus alternative Gestalten?

Nein! Ideal wäre die Besetzung beider Partien mit einer Sängerin. Tannhäusers Frauenbild ist Elisabeth, sie wird bei mir ebenfalls schon im Venusberg auftreten in der Doppelung mit der Venus. Tannhäusers Sehnsucht zur Frau ist die Sehnsucht nach Elisabeth. Doch die steht im feindlichen Umfeld der Wartburggesellschaft. Daher verlagert er sein Ideal auf die fiktive Antike, auf Venus, die in seinem Traum aber ein Eigenleben entwickelt und dabei seine künstlerische Kraft lahmt.
Auf der anderen Seite steht die reale Welt der Wartburg, die Welt einer etablierten Gesellschaft, die austauschbar ist, die es immer gab und geben wird, unabhängig von Feudalismus, Kapitalismus oder Sozialismus. Etablierte Gesellschaftsstrukturen sind immer reaktionär, dogmatisch. Sie benutzen Kunst zur Selbstdarstellung, sie fördern sie zwar auch, sponsern sie, aber die Kunst muß dieser Gesellschaft zum Munde reden, in ihre Ideologie, in ihre religiösen Vorstellungen passen.
Das Problem im »Tannhäuser« ist ja, daß der Sänger, bevor wir ihn kennenlernen, bevor das Stück beginnt, schon einmal in Krach und Streit aus der Wartburggesellschaft ausgeschieden ist, endgültig. Er selbst hat sich seine Ersatzbefriedigung in jener Venuswelt gesucht. Das ist ja auch Weltflucht, die es bei Künstlern gab und gibt.

»Hin zum Tod, den ich suche, zum Tode drängt es mich...«, singt Tannhäuser in der Pariser Fassung des Venusberges.

Ja, Todessehnsucht gehörte ja in der Romantik zum Persönlichkeitsbild. Hier steht es für die totale Trennung von der Gesellschaft. Nur hält Tannhäuser das nicht aus, weil er ja doch ein blutvoller Künstler ist, an dem das Leben wie mit Stricken zieht. Er merkt, daß ohne Konfrontation mit der Welt, ohne einen Widerpart in der Welt keine Kunst möglich ist. Also muß er aufwachen, in die Realität zurückkehren. Und hier begegnet ihm - das ist ja das Geniale an dem Stück - das andere Extrem, die Ideologie, die Kirche: der Pilgerchor, der bei uns nicht real erscheint, sondern ebenfalls als Fiktion, als ein mystisches Bild, gleich einer Vision. Tannhäuser hat die Isolation, den Alptraum, verlassen und ist mit dem konfrontiert, das er mit seinem Traum verletzt hat. Er begreift, im Sinne dieser Welt eine Todsünde begangen zu haben, bricht zusammen und kriecht zu Kreuze. Dann begegnet er jener Sippe, vor der er geflohen war. Die Erinnerung an Elisabeth veranlaßt ihn, die Rückkehr in die Wartburggesellschaft nochmals zu versuchen, obwohl die Auseinandersetzung mit dieser Welt so hart war. Er spürt tiefe Zuneigung und Liebe zu Elisabeth. Außerdem sind herrschende Gesellschaften gegenüber reuigen, bekehrten Künstlern meist äußerst nett und entgegenkommend. Sie fühlen sich durch die Reue des Rückkehrers selbst bestätigt, glauben, im Recht zu sein. Tannhäusers Begegnungen mit Elisabeth wie mit Wolfram bieten ihm ganz starke und aufrichtige Motive, es nochmals in der Wartburg zu versuchen, nochmals in den Ring zu steigen. Wolfram ist ja ein wirklich ehrlicher Freund, der Elisabeth Tannhäuser zuliebe entsagt und zum Rebellen steht, ohne ihn zu verstehen. Er hält Tannhäuser für einen genialen Anarchisten. Wolfram selber ist der etablierte Staatskünstler, wächst zum wirklich großen Künstler erst beim Lied an

den Abendstern, angesichts der Lebensentsagung von Elisabeth. Hier findet er im Gegensatz zum kurzphrasigen und geistig engen Beitrag im Sängerkrieg zu klassischer Einfachheit und Größe.

Im Sängerkrieg muß es angesichts der billigen Tiraden von Wolfram, Walter und Biterolf, der ja gleich militant wird, schiefgehen, muß sich Tannhäuser provoziert fühlen. Aber er begreift nicht nur nicht, daß seine Angriffe an seinen Gegnern abprallen, er begreift vor allem nicht, daß er mit seiner Attacke Elisabeth zerstört, die seine Haltung nicht nachvollziehen kann, aber so großartig als Mensch ist, daß sie ihm dennoch das Leben rettet; denn es geht ja auch im Sängerkrieg gleich wieder auf Leben und Tod. Ohne Elisabeths ganz persönlichen, körperlichen Einsatz wäre Tannhäuser tot. Aber auch hier verhält er sich wieder opportunistisch, fällt in die Knie, zieht nach Rom, obwohl er weiß, daß es schiefgeht, schiefgehen muß.

Aber er zieht doch mit Hoffnung nach Rom?

Er nimmt die Pilgerschaft ernst, hofft aus Selbstzweifel auf eine mögliche Lösung. Als er abermals scheitert angesichts des Papstes, flieht er erneut in sein schon aufgegebenes Niemandsland der Alpträume. Und daran stirbt Tannhäuser. Jetzt aber ist er kanonisierungsfähig.

Was ist mit der Erlösung durch Elisabeth? Wie katholisch ist dieser Schluß?

Der Schluß ist überhaupt nicht katholisch. Musikalisch wird der Cantus firmus des Pilgerchores konfrontiert, umspielt und kontrapunktiert von den zerrissenen Streicherfiguren der Venuswelt. Wagner läßt alles offen, die Erlösung findet im Text, nicht aber in der Musik statt. Der tote Künstler ist der gute Künstler, denn er ist manipulierbar und kann sich nicht mehr wehren.

Wie der Kommunist Brecht heutzutage im bayerischkatholischen Augsburg.

Eben so!

Wagner schrieb an den Schriftsteller Karl Gaillard: »Ich schicke Ihnen hiermit meinen >Tannhäuser< wie er leibt und lebt, ein Deutscher vom Kopf bis zur Zehe.« Gibt es ein typisch nationales Element in dieser Figur?

Wagner hat hier eine große Wahrheit ausgesprochen. Die grunddeutsche Haltung schwankt zwischen Anarchie, Rebellentum einerseits und Opportunismus andererseits. Das war zu Wagners Zeit so wie heute. Dazu das Leiden an sich selber, sich zu zerstückeln, sich nicht zu entscheiden, hin und her zu schwanken, alles zu bedenken, nichts zu tun, das ist doch sehr deutsch. Da hat Wagner sehr recht, das ist eine urdeutsche Problematik. Die Niederländer zum Beispiel wüßten mit dem Stück nichts anzufangen. Aber sie lieben es trotzdem, wegen seiner Musik.

Wie wird das szenische Erscheinungsbild des neuen Berliner »Tannhäuser« aussehen?

Das Bild ist zeitlich und territorial nicht präzise festgelegt. Wir haben als zentralen Spielort im Hintergrund die romanische Ruine. Das ist das Alte, Vergangene, kann eine Kirche sein, ein Tempel sein. Davor hat sich eine moderne Welt mit Glas etabliert, die wiederum Vergangenheit zitiert wie eine alte Fassade innerhalb eines modernen Baus. Die Ruine ist übriggeblieben, erinnert an das Gewesene, Vergangene, dorthin kann man zwar flüchten, um zu träumen, aber sie bleibt tot, lebt nicht mehr. Auch die großen Sängertribünen sind geschmückt mit Bildelementen und Ornamenten der Vergangenheit. Der Boden schließlich ist anfangs schwarz und im Schlußakt weiß wie Schnee: alles stirbt.

Wenige Wochen vor seinem Tode äußerte Wagner zu seiner Frau Cosima: »Ich bin der Welt noch den Tannhäuser schuldig.« Wie sollen wir diesen Ausspruch interpretieren?

Wagner hat ja lange am »Tannhäuser« herumlaboriert. Es gibt schon in Dresden die beiden Schlüsse einmal ohne und einmal mit Venus, dann die Ausweitung des Bacchanals für Paris und die Mischfassung für Wien. Wir spielen überdies die zweite Dresdner Fassung, ergänzt durch die erweiterte Venus-Partie aus Paris ohne das Bacchanal. Wagner war also bis unmittelbar vor seinem Tode mit dem Werk nicht ganz zufrieden. Durch die Erfahrungen mit den »Meistersingern«, dem »Ring« und dem »Parsifal« war ihm wahrscheinlich das Werk nicht schlüssig genug oder vielleicht sogar ideologisch bedenklich.

Spricht seine wiederholte Beschäftigung mit dem » Tannhäuser« bis in die letzten Lebenstage nicht auch dafür, für wie wichtig er den Stoff hielt?

Ja, »Tannhäuser« ist nächst den »Meistersingern« das eigentliche Künstlerdrama Wagners, hier findet sich seine widersprüchliche Persönlichkeit am deutlichsten gespiegelt. Vielleicht ist ihm aus seinen Lebenserfahrungen heraus bewußt geworden, daß er sich im Tannhäuser einerseits als romantischen Künstler, als Opfer dargestellt hat, daß er andererseits ihn aber hätte kritischer sehen müssen, vielleicht gerade in unserem Sinne. Vermutlich erkannte er kurz vor seinem Tode, was an Möglichkeiten noch in diesem Stoff steckte. Wagner war ja insgeheim, unabhängig von seinem nach außen hin sorgfältig inszenierten Schaubild, sich selbst gegenüber mitunter sehr kritisch. Weiß man's?

Das Gespräch führten Manfred Haedler und Walter Rösler.

Quelle: Tannhäuser und der Sängerkrieg auf Wartburg von Richard Wagner
Herausgegeben von der Staatsoper Unter den Linden Berlin, Insel Verlag