Wagners Mittelalter: Eine Sagenmischung

Die Zahl der romantischen Neugestaltungen der Sage vom Tannhäuser im Venusberg und der in Liederhandschriften und alten Chroniken überlieferten Berichte vom Sängerkrieg auf der Wartburg mag ein Dutzend betragen. Fast alle bedeutenden Dichter und Schriftsteller der deutschen Romantik haben dem Thema künstlerischen Ausdruck verliehen. Richard Wagner kannte viele dieser Quellen, so den Roman von Novalis Heinrich von Ofterdingen (1802), die Erzählungen Der Tannhäuser, Der Hörselberg, Der getreue Eckhart, Der Wartburger Krieg aus den Deutschen Sagen von Jacob und Wilhelm Grimm (1816), Ludwig Tiecks Novelle Der getreue Eckhart und der Tannenhäuser, (1817), E.T.A. Hoffmanns Erzählung Der Kampf der Sänger (1819), Ludwig Bechsteins Sagenschatz des Thüringerlandes (1835) und nicht zuletzt Heines ironisierendes Gedicht Der Tannhäuser (1836/37). Für Wagner wurde die Kenntnis einer Abhandlung von Christian Theodor Ludwig Lukas (Der Krieg von Wartburg, 1838) entscheidend. Nach Lukas' Meinung war der Hauptakteur des »Wartburgkrieges« Heinrich von Ofterdingen mit dem Ritter und Minnesänger Tannhäuser, dem sagenhaften Helden vom Venusberg, identisch. Das eröffnete Wagner die Möglichkeit, die ursprünglich getrennten Sagenkreise miteinander zu verknüpfen. Entscheidend wurde auch der Ausbau der Beziehung zwischen Tannhäuser und Elisabeth. Die historische Elisabeth war die Tochter eines ungarischen Königspaares, die mit dem kurzlebigen Sohn des thüringischen Landgrafen Hermann vermählt wurde und in die Geschichte als Heilige Elisabeth einging. Bei Wagner ist sie die Nichte des Landgrafen, die Tannhäuser liebt und erlöst. Mit dieser von Wagner selbst stammenden Ergänzung des Stoffes wurde es möglich, Tannhäusers schizophrenen Seelenzustand durch dramatische Mittel zu offenbaren. Auch ein romantisches Reiseerlebnis wirkte inspirierend auf Wagners Phantasie. Im böhmischen Wald begegnete der Komponist einst einem Hirten, der eine lustige Tanzweise pfiff. Mit einer Hirtenweise begrüßt die irdische Welt den aus dem Venuszauber erwachenden Tannhäuser, wenngleich Wagner das einst Gehörte nicht zitierte, sondern lediglich als Anregung übernahm. Ähnliche Inspiration verdankte er -»Hector Berlioz. Der zweite Satz der von Wagner hoch geschätzten Horo/d-Symphonie (1834) brachte ihn auf die Idee eines Pilger-Chores.

Mehr Venus

Oftmals und zu Recht wird von einer Dresdener und einer Pariser Fassung des Tannhäusers gesprochen. Für Wagner aber existierte nur ein Tannhäuser, und zwar immer in der jeweils zuletzt von ihm geschaffenen Form. Im ursprünglichen Finale, das heißt in den ersten 13 Aufführungen in Dresden, erglühte in der Ferne der Venusberg, und Glöckchen verkündeten den Tod Elisabeths. In einer neuen Schlußfassung (Dresden, 01.08.1847) erschien Venus selbst, traten die Ritter mit der aufgebahrten toten Elisabeth in Erscheinung, und Tannhäuser brach tot am Sarg Elisabeths zusammen. Die Neukomposition der ersten Venus-Szene in den letzten Monaten 1860 erwuchs musikalisch auch aus dem neuen Schluß von 1847. Die Szene in Venus' Grotte wurde erweitert und teilweise neu instrumentiert. Die charakteristische Sonorität des Orchesters, die Verschleierung der Gestalt der Venus durch das Tremolo der hohen und gedämpften Violinen, die Verschwommenheit und Undurchsichtigkeit des Mischklangs, bei dem der Hörer nicht weiß, wie er entsteht und wer ihn

hervorbringt, das hektische Auf und Ab der exaltiert anmutenden Streicherpassagen schaffen den Eindruck orgiastischen Taumels und fieberhafter Liebesraserei -all das sind Details aus der »Fülle der Kombinationen«, wie Wagner seine neue Kunst der Orchestrierung nannte. Doch hatte die für Paris geschaffene Venus-Szene nicht nur Auswirkungen auf den Stil der Musik, sondern auch dramaturgische Konsequenzen. Durch diese Szene kommt der Gegensatz zwischen der alltäglichen Welt, in die sich Tannhäuser zurücksehnt, und dem »Paradis artificiel«, in dem Venus ihn zurückzuhalten versucht, zum Ausdruck. Baudelaires Essay Les Paradis artificiels -Opium et Haschisch erschien auch 1860, und eben Baudelaire war einer der ersten großen Franzosen, die sich sehr intensiv mit der Problematik des Tannhäuser beschäftigten. In der Venushöhle ist die Urquelle zu Wagners sinnlichen Musikstücken zu suchen (Die Walküre, I. Akt, Tristan und Isolde, II. Akt und die Szene zwischen Parsifal und Kundry in Klingsors Zaubergarten, Parsifal, II. Akt).           

Fluch und Irrfahrt


Tannhäuser, Bühnenbildentwurf von Ludwig Sievert für die Inszenierung von Rudolf Hartmann, musikalische Leitung: Clemens Krauss, Staatsoper München 1933 (TWS) Eine wunderschöne Offenbarung deutscher »Waldseligkeit«: Pilger im Thüringer Wald,im Hintergrund die Wartburg. Der Lenz ist da (I. Akt). Die erhabene Ruhe der Natur des Thüringer Waldes mit den frommen Pilgern war von so grundlegender Bedeutung für Wagner, daß er die Tannhäuser-Ouvertüre mit der Melodie des Pilgerchores begann. Sie vereint Waldseligkeit und Frömmigkeit.  

Das Motiv des Fluches findet sich in Wagners gesamtem Lebenswerk. In den Feen wird Ada von Arindal verflucht, im Rienzi wirkt die Exkommunikation wie ein Fluch, auf dem Holländer liegt ein Fluch, den einzig ein Opfertod aufzuheben vermag. Tristan verflucht den Liebestrank, Alberich (Rheingold) die Liebe, und Kundry (Parsifal) ist verdammt, durch die Jahrhunderte zu irren. Bei Wagner ist das Fluchmotiv von Anfang an mit dem Motiv der Irrfahrt verknüpft. In den Feen muß der den Fluch Aussprechende selbst umherirren und dann die Unterwelt durchstreifen, um die Verfluchte zu erlösen. Der Holländer ist zu ewiger Seefahrt verdammt, Tristan geht bei seiner Selbsterforschung Wege und Irrwege. Im Ring des Nibelungen ist die Irrfart eine Folge des geschichtlichen Weltfluches selbst. Die kosmische Irrfahrt endet hier durch Brünnhildes Selbstmord. Im Tannhäuser kommt es zu drei Verfluchungen und zwei Irrfahrten. Zu Beginn des ersten Aktes, (1. Szene) verwünscht Venus den sie verlassenden Tannhäuser, der Sängerkrieg endet mit Tannhäusers Verbannung vom thüringischen Hof (Ende des zweiten. Aktes). Das musikalisch-dramatische Zentrum des dritten Aktes ist Tannhäusers »Romerzählung«, der Bericht von dem einem Fluch gleichenden Bescheid des Papstes, ihm werde so wenig Erlösung zuteil, wie ein dürrer Stab zu grünen beginne. Darauf folgt im Grunde die zweite Irrfahrt Tannhäusers, der Versuch zum unterirdischen Reich der Venus zurückzufinden.

Venus, Maria, Elisabeth - Tannhäusers Hilferufe

Die für diese Oper so charakteristischen abrupten Wendungen in der dramatischen Handlung entsprechen dem Charakter des Titelhelden. Ohne Übergänge erfolgen wesenhafte Wandlungen, plötzliche Umschläge. Einige davon sind nur für Tannhäusers inneren Weg gültig und nur für sein Temperament charakteristisch. Als Tannhäuser begreift, daß er mit seinem Preislied auf Venus Elisabeth tödlich verletzt hat, »die ihn geliebt tief im Gemüthe, der jubelnd er das Herz zerstach«, ist er tief zerknirscht. In diesem Zustand vernimmt er den Gesang der jüngeren Pilger (»am hohen Fest der Gnad’ und Huld, in Demuth sühn ich meine Schuld«). Da wendet sich Tannhäuser, »dessen Züge von einem Scheine schnell erwachter Hoffnung verklärt werden, mit einem Schrei >Nach Rom!< rasch zum Abgange.«

   
Tannhäuser, Figurinen der Venus von Heinrich Lefler (oben) und der Elisabeth von Hugo Baruch (links), Berlin 1910 und Wien 1910/1911 (TWS) Venus (links) und Elisabeth (rechts) im Jugendstil-Ambiente. Das tiefenpsychologische Potential der Wagnerschen Figuren wurde erst so recht im Zeitalter Sigmund Freuds entdeckt. Elisabeth und Venus sind zwei Varianten des »ewig Weiblichen«, die Wagner bis zu seiner letzten Frauengestalt, Kundry (-»Pors/fo/), begleiteten: die reine, ideale Liebe als höchstes Ziel der Poesie der Minnesänger und die sinnliche Liebe als das Versinken in der ewigen Nacht der Wonne. Dabei porträtiert Wagner Elisabeth nicht immer betend und reumütig, sondern, im zweiten Akt, auch als eine keusche, aber strahlende Frau. Ihre Antrittsarie (»Hallen-Arie« N 19) ist »geräumig« und von großem Schwung. Eine jugendstilhafte Venus mußte nach dem üppigen, historisierenden Bayreuther Bühnenstil recht erfrischend wirken. Venus ist eine wichtige Erscheinung im Tannhäuser. Obwohl sie keine eigene Arie zugeteilt bekommt, ist ihr Gesang am ehesten zukunftsweisend. Das ganze erste Bild des ersten Aktes gehört auch musikalisch ihrer Sphäre an.

Die meisten dieser plötzlichen Umschläge wirken auch auf den Gang der Handlung ein. Wie Beschwörungsformeln wirken drei Namen. Die Namensnennung der Heiligen Jungfrau Maria ruft die erste große Verwandlung hervor: Der Venusberg versinkt wie durch einen Zauberschlag. Als Wolfram Elisabeths Namen nennt, ändert Tannhäuser »heftig und freudig ergriffen« augenblicklich seinen Entschluß, nie in den vormaligen Sängerkreis zurückzukehren, und bricht in einen Freudenschrei aus: »Zu ihr! Zu ihr! Oh, führet mich zu ihr!« Im Gegensatz dazu sucht Tannhäuser nach der vergeblichen Pilgerfahrt den Weg zurück zu Venus und scheint Elisabeth gänzlich vergessen zu haben. Da trifft ihn der Name Elisabeth, abermals von Wolfram ausgesprochen, wie eine Erschütterung: »Tannhäuser bleibt, wie von einem heftigen Schlage gelähmt, an die Stelle geheftet.« Auch die l Namensnennung der Liebesgöttin gibt dem Sängerfest eine gänzlich neue Wendung: »Armselige, die ihr Liebe nie genossen, zieh't hin, zieh't in den Berg der Venus ein!« Tannhäuser »in höchster Verzückung«, Elisabeth »in furchtbar wachsender Angst« zuhörend, »mit dem grössten Aufwand ihrer Kraft, sich aufrecht haltend.« Später (III. Akt) läßt der Name der süßen Göttin das Zauberreich der Minne erscheinen, während Elisabeths Name das Gegenteil bewirkt: »Venus verschwindet und mit ihr die ganze zauberische Erscheinung.« Wagners Meisterschaft zeigt sich darin, daß gerade durch die Symmetrie dieser plötzlichen Wendungen eine Ausgeglichenheit des Ganges und der Gemütslage des Werkes zustande kommt.

Bogenform: Vom Lenz zum Herbst

Die Geschichte beginnt im Frühling, mit einem Bacchanal, in E-dur und sehr geschwind. Den Höhepunkt des Konflikts erklimmt die Oper im zweiten Akt mit dem lärmenden, äußeren Zusammenstoß Tannhäusers mit den Sängern und dem lautlosen, inneren Zusammenbruch Elisabeths. Dies ist der Gewölbebogen der Form: ein Adagio-Ensemble in H-dur und ein polyphoner Choral-Gesang in derselben Tonart (»Mit ihnen sollst du wallen zur Stadt der Gnaden huld«), mit dem auch der Akt ausklingt. Die Geschichte endet im Herbst, der letzte Akt beginnt in Es-dur, und der Tag neigt sich dem Abend zu. Die aufeinander folgenden Tempocharaktere sind insgesamt langsam und statisch gehalten (Pilgerchor, Gebet, Romanze, in Moll beginnend, Romerzählung). Nach dem Tod Elisabeths und Tannhäusers klingt die Oper mit einem Melodie-Fragment aus dem ersten E-dur Pilgerchor in Es-dur aus.   

Quelle: Opera, Komponisten - Werke - Interpreten
Herausgeber András Batta, Könemann Verlagsgesellschaft