Mindener Tageblatt | 07. November 2005


Gespucktes "T" und weiße Kleider

Nach der "Tannhäuser"-Schulvorstellung:
Junge Zuschauer treffen John Pierce und Wally Sutcliffe

Minden (mt). Zum ersten Mal Oper, dann noch Wagner, und dazu vier Stunden lang? Als Musiklehrer Uwe Jacobsen das seinem 12er-Grundkurs vorstellte, waren die 17- und 18-Jährigen nicht gerade begeistert.

Von Monika Jäger

"Wir dachten, die stehen da und singen laut, und wir sitzen vier Stunden davor und müssen uns das anhören" bringt Anna-Franziska Liebig (17) die Sache auf den Punkt. Sie, Valerie Schröder und Carsten Niermann vom Musik-Grundkurs des Gymnasiums Petershagen trafen gestern im MT-Gespräch Wally Sutcliffe, Regieassistent der Mindener "Tannhäuser"- Produktion, und John Charles Pierce, der den "Tannhäuser" singt. Und wie war es für sie dann in der Oper? "Sehr beeindruckend", sagt Anna. "Ich habe während der Ouvertüre immer nach der Harfe gesucht", meint Valerie, und Carsten fand es "spannend" - auch wenn er so im zweiten Akt mal "ein bisschen unaufmerksam" geworden sei. John Pierce und Wally Sutcliffe tauschen einen Blick.


Welche Verbindung besteht zwischen Venus und Elisabeth? Valerie Schröder, Anna-Franziska Liebig und Carsten Niermann, Gymnasium Petershagen, hatten viele Fragen an Regieassistenten Wally Sutcliffe und "Tannhäuser" John Charles Pierce. (v. l.) MT-Foto: Monika Jäger

Alles war im Unterricht ausführlich vorbereitet worden: Mit Lehrer Uwe Jacobsen hatten sie den Inhalt besprochen, auf der Webseite gesurft, Ausschnitte anderer Inszenierungen gesehen und sich selbst schauspielerisch am letzten Akt versucht. Für die meisten war es die erste Oper überhaupt. Da gab es hinterher viel zu bereden. "Eine ganze Unterrichtsstunde haben die Schüler nur über den Schluss diskutiert", schildert Lehrer Jacobsen.

Eine Schulvorstellung sei besonders wichtig, sagt Jutta Hering-Winckler, Vorsitzende des Mindener Wagner-Verbandes, weil Kinder und Jugendliche heutzutage kaum noch in die Oper gehen. So war stets klar, dass es beim "Tannhäuser" eine Schulvorstellung für fünf Euro pro Platz geben sollte. "Es war brechend voll - wir hätten noch zwei Vorstellungen anbieten können", sagt sie. Dank des musikalischen Leiters Frank Beermann sei ein Termin vormittags um zehn Uhr möglich geworden - Bedenken einiger Sänger zum Trotz. "Die müssen bei den Proben doch auch vormittags singen" habe Beermann nur angemerkt, schildert Hering-Winckler.

"Wir Sänger waren alle ziemlich aufgeregt"

Und die Sänger? "Wir waren alle sehr aufgeregt - so eine Sache nehmen wir sehr ernst", sagt John Charles Pierce. "Wenn Jugendliche Opern kennen, dann die Zauberflöte. Aber Wagner, und vier Stunden lang - da ist die Spannung schwer zu halten." Viele kämen mit Vorurteilen. "Sie glauben, da steht so eine Dicke auf der Bühne, die irgendwie brüllt - diese Dinge muss man bekämpfen" - um Jugendliche für die Oper und für die Klassik zu begeistern.

Ehrlichkeit fordert Pierce von sich und den Sängern - keine Auftritte, bei denen es "nur um Töne geht, nicht um Schauspiel." Ebenso Textverständlichkeit: "Wagner hat keine einfachen Texte geschrieben."

Und so wusste Pierce schon vorher, dass ihn in der Schulvorstellung eine Szene ganz besonders fordern würde: In der Rom-Erzählung, kurz vor dem Papst-Zitat, berichtet Tannhäuser voll Zorn, wie er den Papst anruft: "...von wildem Schmerz durchwühlt..." Pierce: "Ich knie da vorne an der Bühne und mache meinen Text deutlich - bis ins letzte T., ich muss das letzte Wort spucken" - damit es auch im dritten Rang noch zu verstehen ist. Doch da fingen die Schüler in der ersten Reihe zu kichern an. Pierce wusste: "Wenn ich sie jetzt verliere, ist es aus." Jahrelange Bühnenpräsenz und nicht zuletzt Erfahrungen mit seinen eigenen Kindern kamen ihm zu Hilfe. Ein kleines Innehalten, dann hatte er die Zuschauer wieder in den Bann des Stücks gezogen.

Happy End und Erlösung - oder nicht?

"Wir auf der Bühne kriegen das mit dem Spucken immer gegenseitig ab", scherzt Pierce. "Besonders schön, wenn man sich bei Liebesszenen nahe kommt." Seine jungen Gesprächspartner grinsen.

Viele Fragen haben sie an die Inszenierung. Warum sich Tannhäuser und Elisabeth am Ende nicht die Hände reichen? "Das ist doch irgendwie ein Happy End!" Wally Sutcliffe widerspricht vorsichtig: "Ich weiß nicht, ob das wirklich ein Happy End ist." Erzählt von Wagners Ironie, davon, dass die Regie das Publikum zum Denken bringen will und darum Symbole einsetzt: "Klare Angaben zu machen - das ist nicht unser Job. Wir wollen Leben in das Stück bringen. Die Zuschauer sollen selber denken - das ist der Punkt."

Warum hat Venus eine Glatze? Geduldig beantwortet Sutcliffe diese wohl am häufigsten gestellte Frage. "Es geht darum, wie Tannhäuser Sachen sieht. Macht ist da in dieser Szene, Hässlichkeit und Schönheit sind zusammengebracht. Würde Tannhäuser gehen wollen, wenn das eine wunderschöne Venus wäre?" Und warum trägt Elisabeth am Ende immer noch ein weißes Kleid? Müsste das nicht ein Büßerhemd sein? "Die Frauen repräsentieren verschiedene Arten von Liebe. Die Charaktere sind Symbole für Ideen." Genug Stoff für die Gymnasiasten, weiterzudenken und zu diskutieren.

Werden sie jetzt auch mal selbst in andere Opern gehen? "Wenn in Minden mal was läuft". Klassischer Gesang sei doch "irgendwie gebildeter" als das, was man im Alltag immer hört, sagt Anna-Franziska. "Und dann alles ohne Mikros."

Zum Schluss erzählt Jutta Hering-Winckler noch eine Anekdote aus der Schulvorstellung. Am Ende, sagt sie, da ist hinter ihr ein Schüler aufgestanden und ließ einen lautstarken Kommentar ab: "Saugeil.".

Texte und Fotos aus dem Mindener Tageblatt / MT ONLINE sind urheberrechtlich geschützt
und dürfen nicht ohne Einwilligung der Chefredaktion weiterverwandt werden.