SPIEGEL ONLINE | 11. November 2005


Wagners Wille in Westfalen

Von Alexander Ross

Das Theater in Minden hat kein Ensemble, die Stadt einen Nothaushalt. Wo sonst über Kulturverfall gejammert wird, organisierte eine Rechtsanwältin den Triumph des Bürgers über die verwaltete Kultur: eine Produktion von neun "Tannhäuser"-Vorstellungen, inszeniert von Starregisseur Keith Warner.

Seit Jahren tagt in Berlin die Enquete-Kommission des Bundestages zur Kultur in Deutschland. Seit Monaten zerbrechen sich Kulturpolitiker und die BAT-IIa-Klasse der Kulturschaffenden den Kopf darüber, ob Kultur als Staatsziel ins Grundgesetz aufgenommen werden sollte. Und bald täglich ruft der Deutsche Bühnenverein, jene schlagkräftige Lobby für die Bretter, die die eigene Welt bedeuten, bei jeder noch so kleinen Budgetkürzung die kulturelle Barbarei aus. In dieser aussichtslosen Situation machen Bürger in Minden, was sie wirklich wollen: Kultur.


Mindener Tannhäuser mit "Venus" Chariklia Mavropoulou:
Unterbringung bei "Schlummereltern"

Am Mittwochabend endete hier die letzte von insgesamt neun "Tannhäuser"-Vorstellungen, nahezu unbemerkt von Berufskultur und Großfeuilleton. Die Produktion war ein Unikat für rund fünftausend Menschen, es wird sie nicht wieder geben. Insgesamt drei Jahre lang wurde das "unmögliche Kunstwerk Oper" von drei Menschen vorbereitet: Andreas Kuntze, dem Intendanten der Nordwestdeutschen Philharmonie, der mit dem NRW-Konzertorchester aus Herford die Musik beisteuerte und neben dem Dirigenten Frank Beermann auch renommierte Sänger gewinnen konnte, seinem Bratscher Friedrich Luchterhandt als Produktionsleiter und vor allem von der Notarin Jutta Hering-Winckler, die auch den Starregisseur Keith Warner in Bayreuth überredete, in dem kleinen Mindener Stadttheater mit 550 Plätzen eine voll satisfaktionsfähige Wagner-Aufführung zu stemmen. Warner, sein Lichtdesigner Wolfgang Göbbel und Bühnenbildner Jason Southgate lösten es mit Bravour ohne Kulissen und dem Orchester auf der winzigen Bühne.

Mit dem "Tannhäuser" ist die Rechtsanwältin Hering-Winckler auf dem besten Weg, zur Serientäterin zu werden, denn es ist bereits die zweite Opernproduktion des Mindener Richard-Wagner-Verbands unter ihrem Vorsitz. Schon 2002 zeigte die örtlichen Gralshüter des Meisters mit einem "Fliegenden Holländer", wie man Hochkultur selbst in der Provinz zum Abheben bringen kann: durch Engagement und festem Willen und mit viel eigenem und gesammeltem Geld.


Szene mit "Tannhäuser" John Charles Pierce:
Internationale Besetzung in der westfälischen Provinz

Denn von den Stadtvätern Mindens war kein Cent extra zu erwarten: die Kommune regiert mit einem Nothaushalt, das Theater hat kein eigenes Ensemble und ist damit eine reine Spielstätte für durchreisende Gastproduktionen und Musicals. Die Auslastung ist sicher, das Niveau jedoch nicht in gleichem Maße. Oper kommt dabei selten zustande, und Wagner gleich gar nicht - seine Werke spielte man in Minden zuletzt Mitte der achtziger Jahre.

Nun sind Wagnerianer aber eine ganz eigene Gattung, denn für keinen anderen Kunstschaffenden finden sich rund 40.000 Menschen auf der ganzen Welt zur Pflege und Preisung seines Werkes in eigenen Vereinen zusammen. Für den Mindener Ortsverband war klar: Wir haben keine Oper, also machen wir uns eine. Vor allem bewies man damit auch, dass Kunst geht, wenn Kunst wirklich gewollt wird.

Es zeigt sich nämlich immer wieder: In Deutschland gibt es genug Menschen, die Geld haben und es auch gerne für die Gemeinschaft geben - solange man es ihnen nicht nur einfach wegnimmt, sondern Initiative und spürbaren Nutzen anbietet. Von "bürgerschaftlichem Engagement in der Zivilgesellschaft" ist daher im dürren Politologendeutsch oft die Rede. Doch es bewegt die Menschen nicht nur bei den Dingen, die ihnen selbst am Herzen liegen, wie Hering-Winckler feststellte. "Einer sagte: 'Ich kenne nichts von Wagner und ich höre mir das auch nicht an. Aber endlich macht hier jemand mal was.' Er gab uns 20.000 Euro." Eine bemerkenswerte Haltung.


Mindener Notlösung: Das Orchester sitzt auf der Bühne

Überhaupt geriet die ganze Produktion zu einem Wagner-Woodstock in Westfalen. Sänger, Korrepetitoren und Assistenten, sonst eigene Garderoben und kommode Hotelzimmer gewöhnt, bekamen über Wochen lediglich ein warmes Bett und Frühstück bei rund zwei Dutzend "Schlummereltern": Familien, die zudem auch noch 55 Frauen und Männer aus Bulgarien bei sich aufnahmen, ohne die das alles nie geklappt hätte - der komplette Chor der Richard-Wagner-Vereinung aus Sofia.

Auch Jutta Hering-Winckler schaffte daheim Platz für insgesamt elf Mitwirkende und gewann sogar Mandanten ihrer Kanzlei als Gastgeber für die Künstler. Trotz allem ist das ehrenamtliche und zeitraubende Engagement ist für sie nichts Besonderes. "Das hätten andere auch gekonnt. Das einzige, was ich mir vielleicht zugute halte, ist meine Risikobereitschaft." Als Juristin und Wagnerkennerin weiß sie: Was du bist, bist du durch Verträge - vor allem wenn's schief geht, wie Wotans Schicksal im "Ring" zeigt. Dennoch betreute sie die Vereinbarungen für die Produktion nicht nur als Anwältin, sondern haftete für etwaiges Unbill auch mit ihrer eigenen Unterschrift. Ihr Lohn: "Die Aussicht auf eine solche Oper bringt alles wieder ins Lot."

Toben hier nicht einfach Wagner-Aficionados ihren teuren Spleen aus? Vielleicht. Die Initiatoren schenkten der Stadt und den Bürgern aber auch Hochkultur zu Spottpreisen: Sieben der neun Vorstellungen konnte der Leiter des Mindener Theaters als Bonbon zur Gewinnung von Abonnenten einsetzen, so der Deal. Wer wollte, kam dadurch für weniger als 20 Euro in den Genuss dieser nicht nur künstlerisch einmaligen Produktion. Lediglich die beiden Premierenvorstellungen verkaufte der Wagner-Verband selbst zu Kartenpreisen zwischen 50 bis 80 Euro - auch dies nur der Gegenwert eines Mittagessens im Bayreuther Festspielrestaurant. Der Mindener "Tannhäuser" kommt damit sogar Wagners Forderung nach einer "Oper für alle", am besten ohne Eintritt, näher als viele andere.


Wagner im Mindener Stadttheater: Oper für Jedermann zu kleinen Preis

Doch nicht nur Wagner-Verbandsmitglieder und Musikfreunde aus ganz Deutschland machten sich auf den Weg zum "Tannhäuser", es kamen auch viel Musikprofis wie etwa der englische Tenor Hugo Mallet. Er findet in Minden den "Glyndebourne spirit" wieder - eine Anspielung auf seinen Landsmann John Christie, der sich im Garten seines Landhauses in Sussex 1924 sein eigenes kleines Opernhaus bauen ließ, das zu Weltruhm gelangte. Der Wille zum Unmöglichen gilt nicht nur für die Oper und die Kultur, meint Mallet: "Wenn so etwas in Deutschland geschafft wird, dann geht hier noch ganz anderes."

Die Macher bekamen nach jeder stark beklatschen Vorstellung die gleiche Frage gestellt: Wann machen sie weiter, welche Oper kommt als nächstes? Für einen Moment waltet Wagners Wille und Wahnwitz in Jutta Hering-Winckler, wenn sie antwortet: "Geben Sie uns eine halbe Million, dann machen wir hier jede Oper." Natürlich pilgert sie regelmäßig nach Bayreuth, jedoch nicht zu Fuß wie Tannhäuser auf seinem Bußgang. Doch es liegt wohl in der Familie, für die Liebe zu Wagners Musik einen außerordentlichen Einsatz auf sich zu nehmen: Bereits ihr Großvater machte sich 1876 zu den Aufführungen des "Ring des Nibelungen" auf den Weg von Minden nach Bayreuth, hin und zurück rund 800 Kilometer. Er ging zu Fuß.

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